Aquarell, Wasserfarbenmalerei, saftig oder erdig, durchsichtig, und Gouache, von guazzo, guazzare, schwemmen, waschen, stärker auftragend, Deckfarbenmalerei, eins kommt zum andern, vertiefend, verdünnend, verdichtend, das kommt hier zusammen, und Collage, scheinbar hingeworfen, tatsächlich gefügt, gefugt, ins Verhältnis gebracht, nach welchem Maß? das kennt der Betrachter nicht und wird es nicht kennen, bleibt ein Geheimnis, die Collage taucht ein ins Bild, taucht wieder auf, und je nachdem, wie er schaut, ist es gemalt oder geklebt, aus einem Stück oder mehreren Stücken, Papier oder Karton, alt oder neu, gewohnt oder ungewohnt, fremd? ungehörig? unzugehörig? Finger weg, läßt er sich sagen, nimm Abstand, das Blld dreht sich, und schon ist er gefangen in diesem Spiel, er verdreht die Augen, glaubt, er ist es selbst, sehendes Subjekt, und weiß nicht, was er sieht, schaut er näher hin, bemerkt er die Abstraktion, den Abzug oder Entzug, die Linien, die Formen, die Farben, schaut er ferner hin, mit halb geschlossenen Augen, etwa blinzelnd, sieht er alles Mögliche, vielleicht junge Geschöpfe, frischgewaschen, duftend, sie springen ihm in die Arme, wünschen sich ein Eis oder Zuckerwatte oder einen Luftballon und, falls er nichts dergleichen zu bieten hat, daß er sie wenigstens übers Wasser trägst, er sieht, was er will, aber das Bild, das die Künstlerin gemalt hat, das sieht er nie, unter uns gesagt, sie hat ihm die Augen verdreht, nach welcher Methode? das möchte er sich doch gern erklären, jedes ihrer Bilder ist mit Bedacht hergestellt, sie sagt, meditativ, er sagt, poetisch, Poesie, von poiesis, das heißt Herstellung, so hat er einen Anhaltspunkt gefunden und spekuliert nun drauflos, zeigt, wie sie Konstruktion und Gefühl, Logik und Leidenschaft, Genauigkeit und Seele in ihren Bildern vereinigt, manches erinnert ihn an Gerüste, Leitern und Bretter und Gitter, Sperren, Barrieren? und manches erinnert ihn an Stoffe, Fetzen, Vorhänge, Überzüge, gewebt, genäht, geknüpft, aber das Bindemittel, das beide Seiten, Architektur und Textilien, zusammenhält, ist die Figur der Wiederholung, sie läuft immer mit, und so wird sie ausgeführt, nochmal und nochmal, wer mit Kindern zu tun hat, kennt die Melodie, bitte, bitte, nur einmal noch, und nochmal, dabei ist klar, es hat kein Ende, alle wissen es, auch die Erwachsenen, trotzdem machen sie es nochmal und nochmal, damit einmal? die Figur entspricht dem Leben, es wird etwas wiedergeholt, ein Traum, schön oder häßlich, leicht oder schwer, ein Wohlbefinden, ein Schrecken, und so ist das Spiel geregelt, es heißt Eins oder Null, so oder nicht, es gibt keine Alternative, keine Polarität, kein Plus und Minus, wie die Elektriker sagen, man macht es, führt es zu Ende, oder man läßt es sein, die Künstlerin wiederholt und überholt sich selbst, dazu braucht sie niemanden, sie malt außer Konkurrenz, und sie wird nicht fertig, weder mit den Sachen noch mit sich, da muß sie warten, sich in Geduld üben, auch leiden am Überschuß und am Mangel, die Schubläden sind voll mit Bildern, aber die sind nicht alle

vollendet, einige zu rund, zu lieb, zu beschaulich, einige zu leer, kommt was drauf, ein Steg, eine Brücke, eine Nase, ein Zapfen, oder kommt was weg, eine Schneise, eine Bresche, es bricht etwas ein, ein störendes Element, ein Querschlag, die Realität? so fliegen dann die Fetzen, ganz anders der Pinsel, er zieht seine Bahn, macht Wellen, Kurven, Kringel, auch Striche, Schnecken, Ecken, oder zieht Fäden, ein guter Pinsel hat eine schöne Spitze, Marderhaare, unterirdisch das Raubtier, überirdisch die Gestirne, die ziehen auf natürliche Weise dahin, der Pinsel muß arbeiten, er verfolgt eine Linie, weiter, weiter, zögert, unterbricht sich, ist müde, saftlos, kraftlos, hört auf, wird Strecke, bekommt Flüssiges, Farbe, und weiter, weiter, die nächste Zeile schließt an, und noch eine, und noch eine, der Marder, steht in einem alten Lexikon zu lesen, klettert gut, schlüpft durch Löcher, welche kaum die Größe seines Kopfes haben, ist listig, blutdürstig und deshalb dem Federvieh gefährlich, das gilt noch heute, bleibt hinzuzufügen, er zerbeißt auch Starkstromleitungen, Muster sind nicht Serien, die laufen aus, erschöpfen sich, Muster sind unerschöpflich, Fließendes und Beständiges, Krummes und Gerades, Warmes und Kaltes, Feuchtes und Trockenes, das einander Widerstrebende kommt zusammen, ebenso die Arten der Anwendung, man kann sich zurückziehen, vorstoßen, anstoßen, bis an den Rand, über den Rand hinaus, das Bild greift über, oder es fehlt etwas, ist da ein Fehler? nichts da, da ist eine Öffnung, die Außenwelt drängt in die Innenwelt, die Innenwelt drängt in die Außenwelt, der Betrachter fühlt sich nun seinerseits gedrängt, seine Aufmerksamkeit in Schwebe zu halten, was ein gewisses Problem darstellt, das Problem ist nämlich das Ineinander von gespannter und geruhsamer Anschauung, beachtet er die Komposition, sieht er die Malerei, beachtet er die Malerei, sieht er die Komposition, entscheidet er sich für das eine, landet er in dem anderen, der Wechsel geht schief, er lernt also, die Zeit und die Routine helfen ihm dabei, die Gesichtspunkte zu verschmelzen, in der Sprache der Optiker, er entwickelt einen bifokalen Blick, in der Sprache der Kritiker, er wurschtelt sich durch, damit tritt jedoch ein neues Problem auf, die Steuerung, wohin lenkt er seine Schritte, wenn er eine Sammlung, sagen wir, eine Ausstellung, besucht? welches Getümmel liegt ihm jetzt näher oder ferner, die Wilhelm-Busch-Straße oder die Milchstraße? das Frauenhaus, der Spielplatz nebenan, die Rasenmäher oder das Universum? Marianne Bähr löst das Steuerungsproblem auf ihre eigene Weise, sie malt, und während sie sich so mit Gott und der Welt auseinandersetzt, findet sie zur inneren Balance zurück, nicht sie beherrscht die Kunst, die Kunst beherrscht sie.

Manfred Moser (2017)

 

Momentaufnahmen

Die Malerei von Marianne Bähr, meiner Mutter, ermöglicht dem Betrachter den Zugang auf verschiedenen, sehr individuell formulierten Ebenen.

Zum einen schränkt sie dessen Phantasie nicht durch einen streng vorgegebenen Deutungskodex ein, sondern hält ihn vielmehr dazu an, sich von dem Dargestellten zu einer idiosynkratischen Deutung ispirieren zu lassen und mitunter Analogien zu selbst Erlebtem zu erkennen. Zum anderen ermöglicht die Formensprache Marianne Bährs es dem Blick, sowohl in einem gegebenen Bild zu verweilen, als auch einen harmonischen, graduellen Übergang zur Bildumgebung zu vollziehen.

Keines der Bilder erfährt kompositionell durch die unumgehbare physische Begrenzung des Blattrandes eine jähe Zäsur,wodurch der Blick des Betrachters nicht eingeschränkt wird, sondern das Dargestellte einen viel größeren Platzanspruch einfordert, der nach einem Ausweiten der Komposition nach allen Richtungen verlangt. Auf diese Weise bietet sich dem Betrachter die Möglichkeit, das Betrachtete in einem größeren, von ihm selbst definierten Kontext, oder Rahmen, zu erleben.

Daraus ergibt sich, daß die bei Ausstellungen abstrakter Kunst unweigerlich gestellte Frage nach Bildinhalten und einem etwaigen Realitätsanspruch des Dargestellten hier in den Hintergrund tritt und ihre definitive Beantwortung nicht als vorrangiges Ziel angesehen wird. Vielmehr drängt sich der im Bereich der Photographie und Cinematographie vielstrapazierte Begriff der Momentaufnahme förmlich auf. Anders als die letzteren beiden Genres ist die nicht-gegenständliche Malerei durch das Repertoire ihrer Stilmittel nicht so sehr einem Festhalten (an) der subjektiven Realität verpflichtet,sondern kann, ohne auf allegorische Inszenierungen zurückgreifen zu müssen, gleichermaßen eine Momentaufnahme der Außen-, wie auch der Innenwelt, mehr oder weniger glaubhaft vermitteln.

In ihrem Werk liefert Marianne Bähr somit nicht nur Momentaufnahmen der physischen, objektiven Wirklichkeit,in der sie lebt und die sie nachweislich beobachten und wiedergeben kann, sondern ermöglicht dem Betrachter darüber hinaus auch ansatzweise Einblicke in die Topographie ihrer Phantasie und subjektiven Wirklichkeit.

Mit dem Begriff der Momentaufnahme verbinden wir unweigerlich das Konzept von Willkürlichkeit und Vergänglichkeit. Zu beurteilen, inwieweit man dies in Marianne Bährs Malerei widergespiegelt findet, liegt letztlich beim Betrachter selbst. Es erübrigt sich jedoch, darauf hinzuweisen, daß man diese Eigenschaften hier nicht in einer etwaigen gleichgültigen, auf dem Zufallsprinzip beruhenden Ausführung, als vielmehr in der ephemeren Natur des Dargestellten suchen muß. Die Ausschnitthaftigkeit und Lebendigkeit der Bilder selbst bekräftigen die Veränderlichkeit unserer Um- und Innenwelt, während die Ausgewogenheit der Komposition und der wohlbalancierte Einsatz von Farben die eingehende kritische Auseinandersetzung im Zuge des Entstehungsprozesses erahnen lassen.

Obwohl das Repertoire ihrer oftmals geometrischen Formensprache per definitionem Konnotationen mit Strenge hervorrufen sollte, sind Linien, Quadrate, Ellipsen in Marianne Bährs Werken nie hart und exakt formuliert, sondern zeugen von einer weichen Spontaneität. Gemeinsam mit der Tatsache, daß die Formen den Bildrahmen zu sprengen scheinen, oftmals durch sich scheinbar unendlich fortsetzende Wellenlinien, verstärkt dies den Eindruck der Momentaufnahme noch zusätzlich.

Auch die Technik der Kollage unterstreicht die Momenthaftigkeit, das Festhaltenwollen des Augenblickes. Einerseits vervollständigen applizierte Elemente das Bild zu der visuellen Einheit,die die Künstlerin festhalten möchte, andererseits sind sie ein zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügtes Post Scriptum, das zum gleichen Ziel eingesetzt wird.

Wo man leicht einen Spaziergang auf dem Glatteis der formalen und stilistischen Einseitigkeit unternehmen könnte, gelingt es Marianne Bähr stets, diesen Ausflug zu vermeiden. So finden wir in ihrem Werk geometrische Formen ohne mathematische Strenge, den Einsatz kräftiger Farben ohne grelle Buntheit, Abstraktion jenseits eines bloßen Dekorationsanspruches.

Marianne Bähr jun. ( 1997 ) 

 

 

                                                          

 

 

Von der Bewahrung des genauen Blicks 

Der Geschmack einer in Tee getauchten "Madeleine" läßt für das anonyme "Ich" in Marcel Prousts monumentalem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (À la recherche du temps perdu) den Ort der Kindheit, Combray, in seiner ganzen Fülle wiederauferstehen. Das französische Gebäck, ein Sandtörtchen, steht in einer Reihe von Objekten, die jenem Ich (sein Name könnte Marcel sein) "unwillkürliche Erinnerungen" ermöglichen.

Sind es nicht unter anderem auch "unwillkürliche Erinnerungen", von denen uns eine Künstlerin (ihr Name könnte Marianne Bähr sein) in vielen ihrer Arbeiten - ich sage an dieser Stelle ganz bewußt: "erzählt". Es könnten unwillkürliche Erinnerungen an "frühe optische Erfahrungen" in der Schneiderei der Mutter sein, an das Ordnen und Anordnen von Farben oder an das Schneiden von Materialien. Möglicherweise reproduziert Marianne Bähr diese frühen Erfahrungen auch durch ihre Arbeitstechnik(en). Sowohl das (An)Ordnen von Farben (und Formen) als auch das Schneiden spielen dabei eine große Rolle und werden von ihr immer wieder angewendet.

Marianne Bähr setzt sich, und das ist einer der bemerkenswerten Aspekte ihrer künstlerischen Arbeit, ganz bewußt mit diesen Eindrücken auseinander. Sie befinden sich wohl im Erinnerungsfundus von fast jeder Kindheit. Stoffe und Farben verschiedenster Art (auf deren Auswahl man in den Kindheitstagen - noch - nicht selbst Einfluß nehmen kann). Gleichwohl werden sie zu Begleitern, fast ist man versucht zu sagen: zu "verläßlichen" Begleitern, insofern, als sie immer wieder auftauchen. Aber dann an unerwarteten Stellen im Verlauf eines Lebens.

Das im Fundus der eigenen Erinnerungen Vorgefundene wird von der Künstlerin Marianne Bähr aber, nach ihren eigenen Gesichtspunkten, geordnet, arrangiert und damit auch dargestellt. Der Aspekt der Collage spielt dabei auch oft eine Rolle. Und der Aspekt der Genauigkeit und Präzision. Das ist, denke ich, sogar eine der Grundtatsachen in ihrer bildnerischen Arbeit. Das Anordnen als künstlerische Strategie ist immer auch der Versuch, dem Chaos (was ursprünglich so etwas wie "gähnende Leere" bedeutete) einen ganzen Kosmos von Zeichen entgegenzusetzen.

Marianne Bährs Zeichenkosmos besteht sehr oft aus farbigen Flächen, Streifen oder konstruktiven Elementen, die ihre Arbeiten als formal streng erscheinen lassen, selbst wenn sie aus roten Wellenlinien "gebaut" sind. Die Künstlerin "pendelt" mit ihrer Formensprache gewissermaßen zwischen den Polen der Genauigkeit und der Leidenschaft. Bei ihren Kunstwerken handelt es sich (nach wie vor) zumeist um Arbeiten in Aquarell- oder Temperatechnik, die ein bestimmtes, "kleineres", Format kaum überschreiten. Sie können gleichzeitig "streng" und "verspielt" sein wie beispielsweise bei Paul Klee, den Marianne Bähr gleichsam als ihren künstlerischen "Urvater" bezeichnet. Eines der zentralen Anliegen von Paul Klee, die grundlegende Erfassung der Beziehungen zwischen Linie, Form (Fläche) und Farbe im Bildraum, hat Marianne Bähr auch zu einem ihrer Anliegen gemacht. Ein weiterer Anklang an Klee: Es ist, wie gesagt so, dass auch in Bährs "Beherrschung der Form der Gefühlston stark vorherrscht". Ihre Emotionen seien in ihren Arbeiten "überall drinnen", so die Künstlerin.

Man möchte das eigentlich gar nicht glauben, bei der gleichzeitig vorherrschenden Disziplin, die sich die Künstlerin bei ihrer Arbeit selbst auferlegt. Ihren Arbeiten liest man das zumindest ab und es führt dazu, dass auch den Betrachtern ein genauer Blick abverlangt wird. Eigentlich ist es ein Angebot der Künstlerin an die Betrachter: die Bewahrung des genauen Blicks. Das Wort Bewahrung erinnert, nicht nur in diesem Zusammenhang, an die Verantwortung des Menschen für seine Umwelt. Es ist zunehmend eine medial bestimmte Umwelt. Die Tatsache, dass das Sehen dem Menschen rund 80 Prozent der Informationen über die Welt liefert und dass optische Reize offensichtlich stärker sind als jene anderer Sinne, hat längst zu einer, vielfach kommerziell bestimmten, "Überflutung" mit optischen Reizen geführt.

Was die Künstlerin Marianne Bähr den Betrachterinnen und Betrachtern anbietet, kann in diesem Kontext durchaus auch als eine "Schule des Sehens" verstanden werden. Vor dem geschilderten Hintergrund der starken Zunahme optischer Reize ist eine "Schule des Sehens" heutzutage vielleicht wichtiger denn je. Es ist wichtig, dass Marianne Bähr in ihrer Arbeit unter anderem von Dingen, die uns nebensächlich zu sein scheinen, berichtet und sie interpretiert: Von Wellen, Fenstern, Gittern, Mauern, Vorhängen und Ornamenten. Bährs "persönliche Stilleben" verweisen, gleichsam ruhig aber bestimmt, auf das Allgemeine, damit aber auch auf das Wesentliche, weil die Künstlerin - auch hier ganz im Sinne von Klee - nicht "das Sichtbare" wiedergibt, sondern sichtbar macht. 

Heimo Strempfl  ( 2007 )